Hinter der Tür

Ger­ade weil der Autor Gior­gio Bas­sani nicht mit der gängi­gen homo­sex­uellen Bild­sprache und den über­schwenglich roman­tis­chen Hand­lungsmustern arbeit­et, ver­mag er mit seinem Roman zu überzeu­gen.

«Ich begriff sofort, dass er nicht bluffte und dass das, was er sagte, die reine Wahrheit war. Und obwohl mich seine Mit­teilung in ihrer Grausamkeit tief ver­let­zte (das Herz stand mir beina­he still), fehlte nicht viel, dass ich in Freuden­rufe aus­ge­brochen wäre. Denn dies – blitzar­tig kam mir der Gedanke – war die Gele­gen­heit, mich von Luciano zu befreien. Endlich war sie gekom­men! Doch ich beherrschte mich. ‹Das glaube ich nicht›, erwiderte ich trock­en. ‹Das habe ich erwartet›, sagte er. ‹Aber wenn du willst, kann ich dir Beweise liefern.›»

So endet ein Tele­fo­nan­ruf zwis­chen zwei ital­ienis­chen Gym­nasi­as­ten, die vor kurzem in die Ober­stufe ver­set­zt wur­den und nun Pult­nach­barn sind. Luciano Pul­ga, der Neben­charak­ter dieser Erzäh­lung und frisch einge­treten in die beste­hende Klasse, bringt den erzäh­len­den Haupt­darsteller, einen sen­si­blen und intel­li­gen­ten Sechzehn­jähri­gen, in emo­tionale Bedräng­nis. Zuvor jedoch entwick­elt sich zwis­chen bei­den Jünglin­gen eine zaghafte, zwiespältige, jedoch sym­bi­o­tis­che Fre­und­schaft – sie bewälti­gen täglich ihre Schu­lauf­gaben und geniessen die Nest­wärme der wohlhaben­den Pro­tag­o­nis­ten­fam­i­lie. Dabei zeigt sich Luciano Pul­ga seinem Schulka­m­er­aden gegenüber nur vorder­gründig als ihm hingegeben und lern­willig. Bas­sani ver­set­zt uns in die ital­ienis­che Schu­lat­mo­sphäre der begin­nen­den 1930er, geze­ich­net durch intri­g­ante Beflis­senheit, schulis­chen Gehor­sam und gesellschaftliche Strenge. Eben­so beschreibt er die Gefühls- und Gedanken­welt des Erzäh­lers und der Leser ahnt, dass sich zwis­chen den bei­den Jünglin­gen ein emo­tionaler Eklat anbah­nen muss. Ger­ade weil Bas­sani nicht mit der gängi­gen homo­sex­uellen Bild­sprache und den über­schwenglich roman­tis­chen Hand­lungsmustern arbeit­et, ver­mag er den Charak­ter des Haupt­darstellers in den Leser zu pro­jizieren. Am dra­matur­gis­chen Kul­mi­na­tion­spunkt fühlt sich dieser deshalb intim berührt, da Bas­sani für ein­mal nicht das Rin­gen mit dem eige­nen Her­vortreten aus dem Schrank the­ma­tisiert, son­dern das Ver­weilen hin­ter der Tür.

Adri­an Reichen­bach

Gior­gio Bas­sani
“Hin­ter der Tür“
Ver­lag Wagen­bach
Berlin 2002
ISBN 978 3 8031 2596 5
138 Seit­en