Obergericht Aargau: Schweiz muss Geschlechtseintrag streichen

In einem his­torischen Entscheid befand das Oberg­ericht Aar­gau am 29. März 2021, dass die Stre­ichung des Geschlecht­sein­trags im Aus­land von der Schweiz anerkan­nt wer­den muss. Trans­gen­der Net­work Switzer­land (TGNS), dessen Rechts­ber­atung die beschw­erde­führende Per­son unter­stützte, ist hocher­freut über diesen klaren Entscheid, mit dem erst­mals ein Schweiz­er Gericht die Exis­tenz nicht-binär­er Men­schen anerken­nt.

Julian P. (Name geän­dert) hat die Schweiz­er Staats­bürg­er­schaft und ist aus beru­flichen Grün­den vor ein paar Jahren nach Deutsch­land aus­ge­wan­dert. In Deutsch­land liess Julian beim Standesamt den Vor­na­men ändern und den amtlichen Geschlecht­sein­trag stre­ichen. Denn keinen Geschlecht­sein­trag zu haben entspricht Julians nicht-binär­er Geschlecht­si­den­tität. Im ver­gan­genen Juni beantragte Julian beim Heima­tort im Kan­ton Aar­gau, dass der neue Vor­name und die Stre­ichung des Geschlecht­sein­trags von der Schweiz anzuerken­nen, also im Schweiz­er Reg­is­ter zu übernehmen seien. Nach­dem das zuständi­ge Departe­ment den Antrag auf Stre­ichung des Geschlecht­sein­trages ablehnte, beschw­erte sich Julian dage­gen beim Oberg­ericht Aar­gau – mit Erfolg. «Ich kann es noch gar nicht ganz fassen. Dieser Entscheid macht für mich einen riesi­gen Unter­schied. Er ist ein hoff­nungs­geben­der Erfolg in unserem jahre­lan­gen Kampf um rechtliche Anerken­nung. Deswe­gen freue mich eben­so sehr für alle anderen nicht-binären Men­schen», sagt Julian.

Der Entscheid bet­rifft nur die Anerken­nung eines gestrich­enen Geschlecht­sein­trages aus dem Aus­land. Zur Möglichkeit, den Geschlecht­sein­trag ohne Entscheid aus dem Aus­land stre­ichen zu lassen, äussert er sich nicht. Die entschei­dende Frage für das Oberg­ericht war, ob die Anerken­nung von Julians Nicht-Ein­trag aus Deutsch­land mit den aktuellen Werten der Schweiz offen­sichtlich unvere­in­bar sei (sog. Ordre-Pub­lic-Widrigkeit). Anhand ver­schieden­er Beispiele, vom BAG Coro­na-Check über poli­tis­che Diskus­sio­nen bis zu Wer­bekam­pag­nen von Fir­men, führt das Gericht aus, «dass die Bina­rität des amtlichen Geschlechts zunehmend in Frage gestellt wird» und dass «eine Öff­nung gegenüber ein­er Min­der­heit», die sich wed­er als (auss­chliesslich) weib­lich noch als (auss­chliesslich) männlich iden­ti­fiziert, «fest­stell­bar» ist. Weshalb das Gericht zum Schluss kommt: «Der Verzicht auf die Angabe des Geschlechts im Per­so­n­en­stand­sreg­is­ter ist mit den hiesi­gen rechtlichen und ethis­chen Wer­turteilen nicht schlechthin unvere­in­bar und führt nicht zu ein­er unerträglichen Ver­let­zung des ein­heimis­chen Rechts­ge­fühls.» Dazu erläutert der fallführende Recht­san­walt, Stephan Bernard: «Das Aar­gauer Oberg­ericht stützte alle von uns vorge­bracht­en Argu­mente. Dass es damit einen allein dem Recht verpflichteten Entscheid fällte, und nicht ein­er über­holten Sichtweise auf Geschlecht das Wort redete, ist aus juris­tis­ch­er Sicht sehr zu begrüssen.»

Diese enorme Freude und fach­liche Ein­schätzung teilt Alecs Rech­er, der die Rechts­ber­atung der Organ­i­sa­tion Trans­gen­der Net­work Switzer­land leit­et und der Julian P. von Anfang an begleit­et hat: «Mit diesem Entscheid schreibt das Oberg­ericht Aar­gau Rechts­geschichte! Es zeigt unmissver­ständlich auf, dass das binäre Geschlechter­mod­ell aus­ge­di­ent hat und dass die Schweiz­er Reg­is­ter an die gesellschaftliche Real­ität angepasst wer­den müssen. Wir erwarten vom Bund, dass er die dazu notwendi­gen Schritte unverzüglich an die Hand nimmt und dass in einem weit­eren Schritt auch nicht binären Men­schen in der Schweiz die Möglichkeit ein­er kor­rek­ten Reg­istrierung eröffnet wird.»

Der Entscheid ist noch nicht recht­skräftig und kann inner­halb von 30 Tagen beim Bun­des­gericht ange­focht­en wer­den.

Gemäss ein­er Medi­en­mit­teilung