Tschetschenien: Opfer sind noch immer in Gefahr

Mein Leben ist ruiniert. Ich kann nicht zurück. Und auch hier bin ich nicht sich­er. Ihre Arme sind lang – und sie kön­nen mich und die Anderen über­all in Rus­s­land find­en …

Mitte April haben sich viele Men­schen in vie­len Städten ver­sam­melt — auch wir hier in Bern — um Sol­i­dar­ität mit den in der rus­sis­chen Teil­re­pub­lik Tschetsche­nien von Sicher­heit­skräften ver­fol­gten, ver­hafteten, bru­tal mis­shan­del­ten und sog­ar ermorde­ten schwulen Män­nern zu zeigen. Höch­ste Zeit also, unseren Fokus wie­der­mal in Rich­tung Tschetsche­nien zu richt­en.

In einem soeben veröf­fentlicht­en Bericht schreibt Human Rights Watch, dass zwar in der Zwis­chen­zeit keine neuen Ver­haf­tun­gen mehr gemeldet wur­den, einige der betrof­fe­nen Män­ner sich aber noch immer in Haft befind­en. «Wir glauben, dass der inter­na­tionale Druck dazu beige­tra­gen hat, dass die tschetschenis­chen Behör­den die Säu­berung aus­set­zen.»

Genau beobachtet wird die Sit­u­a­tion in Tschetsche­nien und Rus­s­land von Kon­stan­tin Sher­styuk vom Vere­in Quar­teera in Deutsch­land. Via Face­book-Chat schrieb er mir gestern auf meine Anfrage hin, dass «die Sit­u­a­tion für die Men­schen in und aus Tschetsche­nien noch immer sehr schwierig und gefährlich» sei. Und dies gelte auch für diejeni­gen, die diesen Men­schen zu helfen ver­sucht­en. Weit­er schreibt Kon­stan­tin:

Ander­seits, es laufen jet­zt mehrere Unter­suchun­gen — durchge­führt von unab­hängige Orga­nen — gegen tschetschenis­che Beamten von Präsi­dent Kady­row. Sowas geschieht in Rus­s­land zum ersten Mal. Das gibt Hoff­nung. Nicht das Kady­row oder seine Anhänger verurteilt wer­den, aber dass zumin­d­est Zeit gewon­nen wird, um mehr Men­schen zu informieren und zu helfen.

Am Vor­abend vom Kar­fre­itag in Bern: Mah­nwache von 200 Men­schen für die Opfer der Säu­berun­gen gegen LGBT in Tschetsche­nien.

Die tschetschenis­che Polizei hat Dutzende schwule Män­ner zusam­mengetrieben, geschla­gen und erniedrigt, mit dem Ziel, die tschetschenis­che Gesellschaft von ihnen zu «säu­bern», schreibt Human Rights Watch im soeben veröf­fentlicht­en Bericht.

«Die Män­ner, die diesen Säu­berun­gen unter­wor­fen wur­den, haben in Tschetsche­nien ein schreck­lich­es Mar­tyri­um erlebt», betont Graeme Reid von Human Rights Watch. «Der Kreml trägt die Pflicht, die Ver­ant­wortlichen für die Gewalt zur Rechen­schaft zu ziehen und alle Men­schen in Rus­s­land ungeachtet ihrer sex­uellen Ori­en­tierung zu schützen».

Der 42-seit­ige Bericht von Human Right Watch beruht auf per­sön­lichen Befra­gun­gen von Opfern der Kam­pagne gegen schwule Män­ner. Von der let­zten Feb­ru­ar­woche und min­destens bis in die erste April­woche hinein trieb die Polizei schwule Män­ner zusam­men, hielt sie tage­lang, teil­weise sog­ar über Wochen an geheimen Orten fest. Dort wur­den sie gefoltert, erniedrigt und aus­ge­hungert, um Infor­ma­tio­nen über andere schwule Män­ner zu erpressen. Die meis­ten Män­ner wur­den anschliessend an ihre Fam­i­lien übergeben, wodurch ihre sex­uelle Ori­en­tierung offen­bart und ihre Ange­höri­gen indi­rekt zu «Ehren­mor­den» ani­miert wur­den. Viele der Män­ner flo­hen nach ihrer Freilas­sung aus Tschetsche­nien. Solange sie in Rus­s­land bleiben, dro­ht ihnen jedoch die dop­pelte Gefahr ein­er Ver­fol­gung und Mis­shand­lung durch tschetschenis­che Sicher­heit­skräfte und ein­er Ver­fol­gung durch ihre eige­nen Ange­höri­gen.

Während die rus­sis­chen Behör­den angekündigt haben, die Säu­berun­gen gegen Schwule zu unter­suchen, wiesen sie immer wieder auf den Man­gel an Beschw­er­den durch Opfer hin, um anzudeuten, die Vor­würfe seien lediglich Gerüchte. Human Rights Watch weist jedoch darauf hin, dass die tschetschenis­chen Behör­den dafür bekan­nt sind, skru­pel­los gegen Ort­san­säs­sige vorzuge­hen, die es wagen, Men­schen­rechtsver­let­zun­gen anzuprangern. «Die Män­ner, die die Säu­berun­gen gegen Schwule in Tschetsche­nien über­standen haben, ste­hen nun ein­er dop­pel­ten Bedro­hung gegenüber: Sie haben guten Grund, Vergel­tung von den Behör­den zu fürcht­en, aber auch Gewalt von Seit­en ihrer Fam­i­lien», erk­lärt Graeme Reid von Human Rights Watch weit­er.