Vielfalt auch im Alter leben dürfen

Die Fach­hochschule St.Gallen geht der Frage nach, inwieweit LGBT+ Men­schen ihre Iden­tität in Alters- und Pflege­heimen leben kön­nen. Ihre Studie zeigt: Viele Heimbewohner*innen ver­steck­en alter­na­tive Lebensen­twürfe und Pflege­fach­per­so­n­en haben wenig Erfahrung damit. Das gibt Anlass, darüber zu reden. Über 200 Per­so­n­en nah­men gestern an der von Kurt Aeschbach­er mod­erierten Podi­ums­diskus­sion der FHS St.Gallen und Pink Cross teil.

TV-Moderator Kurt Aeschbacher im Gespräch mit dem St.Galler Regierungspräsidenten Martin Klöti.
TV-Mod­er­a­tor Kurt Aeschbach­er im Gespräch mit dem St.Galler Regierung­spräsi­den­ten Mar­tin Klöti.

«Wir wussten nicht, wie viele Besucherin­nen und Besuch­er kom­men wer­den. Doch unser grösster Ple­narsaal ist bis auf den let­zten Platz beset­zt», sagte Prof. Dr. Sabi­na Mis­och, Lei­t­erin des Inter­diszi­plinären Kom­pe­tenzzen­trums Alter der Fach­hochschule St.Gallen (IKOA-FHS). Das Leben im Alter­sheim beschäftigt viele Men­schen, denn der Anteil der über 65-Jähri­gen nimmt in der Schweiz immer mehr zu. Daran schliesst sich die Frage an, wie dies LGBT+ Men­schen erleben und wie Alter­sheime mit deren alter­na­tiv­en Lebensen­twür­fen umge­hen. Sabi­na Mis­och präsen­tierte in ihrem Eröff­nungsrefer­at über­raschende Zahlen. Die schweizweit erste Studie zum The­ma «Sen­si­bil­isierung von Altersin­sti­tu­tio­nen für LGBTI- sowie HIV+ und aid­skranke Klienten*innen» hat ergeben, dass LGBT+ Men­schen in Pflege­in­sti­tu­tio­nen und Aus­bil­dungsstät­ten kaum wahrgenom­men wer­den oder dass kaum Erfahrun­gen mit diesen Kli­entin­nen und Klien­ten vor­liegen.

Umfrage zeigt: Wenig Grundwissen vorhanden

1327 Heime wur­den vom Forschung­steam des IKOA-FHS angeschrieben. 353 haben geant­wortet, was ein­er hohen Rück­laufquote von 27 Prozent entspricht. Die Ergeb­nisse zeigen, dass es schon beim Grund­wis­sen um das The­ma hapert: Die meis­ten Heim­lei­t­erin­nen und Heim­leit­er ken­nen den Begriff Trans­gen­der, nicht aber LGBTI. Dass spezielle Bedürfnisse dieser Per­so­n­en­grup­pen wahrgenom­men wer­den, bestätigten lediglich 14 Prozent. Bei zehn Prozent der befragten Insti­tu­tio­nen sind HIV-pos­i­tive und an Aids erkrank­te Men­schen im Leit­bild berück­sichtigt, LGBT+ Men­schen nur bei einem Prozent.

Schwierigkeit­en macht­en die Befragten am ehesten beim Pflegeper­son­al im Umgang mit LGBT+ Men­schen aus. Einige Pflegemi­tar­bei­t­en­den müssten sich kör­per­lich abgren­zen, hät­ten man­gel­nde Ken­nt­nisse oder Unsicher­heit­en im pflegerischen Umgang. Einzelne Mitar­bei­t­ende bekun­de­ten auch Angst vor Ansteck­ung bei HIV-Pos­i­tiv­en. Am meis­ten Erfahrung hat das Pflegeper­son­al mit Schwulen oder Les­ben, viel weniger mit Bisex­uellen oder Transper­so­n­en. Beden­klich find­et Sabi­na Mis­och die Ein­stel­lung des Per­son­als gegenüber LGBT+ Men­schen: Bei Les­ben ist die Akzep­tanz mit 36 Prozent am grössten, gefol­gt von den Schwulen mit 30 Prozent. Inter­sex­uelle Men­schen kom­men ger­ade mal auf sieben Prozent und sehr oft fol­gt die Antwort «Weiss nicht».

Die Aus­sagen sind teil­weise wider­sprüch­lich. Während die Heime von Offen­heit sprechen, scheinen viele der Kli­entin­nen und Klien­ten ihre sex­uelle Iden­tität nach wie vor zu ver­steck­en. Das zeigt uns, dass sich Insti­tu­tio­nen auf die Vielfalt im Alter bess­er vor­bere­it­en müssen. Und die Gesellschaft auch.

Die Angst, sich zu bekennen

Genau­so sieht es Sebas­t­ian Wör­wag, Rek­tor der FHS St.Gallen: «Es braucht ein Selbst‑, aber auch ein Fremd­ver­ständ­nis. Und das set­zt einen herrschafts­freien, offe­nen Dia­log voraus». Diesen führten sie dann auch, die Gespräch­steil­nehmenden des Podi­ums. Mod­er­a­tor Kurt Aeschbach­er stellte die Frage, ob es spezial­isierte Heime brauche für LGBT+ Men­schen. «Ich kann mir nicht vorstellen, später in einem Heim nur für Schwule zu leben. Zudem spüre ich in Insti­tu­tio­nen bere­its grosse Akzep­tanz von Schwulen und Les­ben», so Mar­tin Klöti, Regierung­spräsi­dent St.Gallen.

Auch Max Krieg von Pink Cross find­et, es brauche keine sep­a­rat­en Pflege­in­sti­tu­tio­nen. Aber man müsse in einem Heim so weit­er­leben kön­nen wie zuvor. Maya Burkhal­ter von der Les­benor­gan­i­sa­tion Schweiz LOS sieht es mit der Akzep­tanz etwas anders: «Ich weiss von eini­gen Klient*innen, die von der Spi­tex betreut wer­den und nicht über ihre Homo­sex­u­al­ität sprechen. Sie haben oft Angst, sich zu äussern.» Regel­rechte Ablehnung herrscht bei Myshelle Baeriswyl vom Trans­gen­der Net­zw­erk Switzer­land. «Für viele von uns ist es eine Hor­ror­vorstel­lung, in eine kon­ven­tionelle Ein­rich­tung zu kom­men. Denn bei uns ist die sex­uelle Iden­tität offen­sichtlich.» Sie bezweifelt stark, dort so weit­er­leben zu kön­nen wie bish­er. Auch Vin­cen­zo Paoli­no vom Vere­in Queer Altern Zürich sieht die Äng­ste und Bedenken der Betrof­fe­nen. Er habe in den let­zten 13 Jahren in einem Alters- und Pflege­heim in Zürich keine homo­sex­uelle Per­son fest­gestellt. Auch in der jet­zi­gen Insti­tu­tion nicht. Weil man sich still ver­halte. «Unsere Mit­glieder sagen: Macht vor­wärts, ich will nicht in eine kon­ven­tionelle Insti­tu­tion. Ich will einen Ort, an dem man mich so akzep­tiert, wie ich bin.»

Aufeinander zugehen

Let­ztlich waren sich alle Gespräch­steil­nehmenden der Podi­ums­diskus­sion einig, dass sich einiges ändern müsse und man das Prob­lem nur löse, indem man darüber spreche. Gle­ichzeit­ig brauche es mehr Infor­ma­tion in den Heimen, die Führungskräfte müssten dafür mehr sen­si­bil­isiert wer­den, umgekehrt die Per­so­n­en mehr zu ihrer sex­uellen Iden­tität ste­hen. Maya Burkhal­ter ergänzte, es brauche auch mehr Infor­ma­tion in der Aus­bil­dung von Pflege­fach­per­so­n­en. «Dieses The­ma ist bei uns in der Tat noch zu wenig berück­sichtigt. Da gehen wir über die Büch­er», sagte Prof. Dr. Hei­di Zeller, Stu­di­en­gangslei­t­erin Pflege an der FHS St.Gallen.

«Die Ver­anstal­tung hat Bere­itschaft aus­gelöst. Jet­zt gilt es, darüber nachzu­denken, an Tol­er­anz zu gewin­nen und das The­ma in den Diskurs zu brin­gen», brachte Kurt Aeschbach­er die Diskus­sion abschliessend auf den Punkt.

Gemäss ein­er Medi­en­mit­teilung