Manuel Gasser

Manuel Gasser (1909–1979) — Ein Leben
Eine Besprechung der
Biografie von David Streiff

Insgesamt 732 Seiten
1213 Fussnoten
135 Seiten Fotografien
14 Seiten Chronologie
5 Seiten Bibliografie
6 Seiten Weltwoche Feuilletions
20 Seiten Zusammenstellung "Längere Texte"
13 Seiten Zusammenstellung Beiträge Du-Hefte
24 Seiten Personenverzeichnis
13 Seiten Personenregister
1 Seite Bildnachweise
2 Seiten Dank

 

Darf man(n) eine Biografie, eine über etwa 10 Jahre dauernde Arbeit des Biografen, 70 Jahre Leben eines Mannes, in so nack­ten Zahlen auswerten? David Streiff hat das Leben auf dem Buchdeck­el sog­ar in 16 Zeilen ger­afft. Auszug: “… Schu­la­b­brech­er, … Welt­woche, … Du. … Ein­er, um den nicht herum kam, wer sich in der Schweiz mit Kun­st, Lit­er­atur, Film, The­ater und Kul­tur­poli­tik beschäftigte. … eine wichtige Stimme und für viele jün­gere Zeitungs­mach­er Lehrer und Vor­bild. Ein gross­er Reisender und Gast­ge­ber, ein Homo­sex­ueller, der auf het­ero­sex­uelle junge Män­ner stand und Matrosen, Sol­dat­en und Veloren­n­fahrer liebte. … ein umfassender Blick auf Gassers Leben und Lebensen­twurf, seinen weit­ges­pan­nten Fre­un­deskreis und seine nie erlah­mende Suche nach Glück und Schön­heit. …” Die auch prä­gen­den Wan­der­jahre zwis­chen der ersten und zweit­en Epoche gin­gen in diesem Abriss ver­loren.

Inhaltlich wech­selt die Biografie nach den sehr per­sön­lichen Kapiteln über die Kinder‑, Jugend- und Wan­der­jahren mit seinen beru­flichen Tätigkeit­en vornehm­lich für die Welt­woche und das Du mit Episo­den über seine Reisen, Begeg­nun­gen, Beziehun­gen ab. Akribisch sind die Kon­tak­te zu Grossen sein­er Zeit ver­merkt. Beispiel­haft seien hier jene zu Jean Cocteau und Her­mann Hesse, Pablo Picas­so und Marc Cha­gall, Karl Geis­er und Var­lin, Jean Rudolphe von Salis und Friedrich Dür­ren­matt, die Manns – ins­beson­dere Golo, erwäh­nt. Die Galeri­etätigkeit seines eben­falls schwulen Brud­ers, Hans-Ulrich Gasser, kamen ihm bei den darstel­len­den Kün­stlern und Kun­st­samm­lern sehr zu pass.

Beein­druck­end schält sich in der Biografie das Geflecht män­ner­lieben­der Per­sön­lichkeit­en in ihrem meis­tens pla­tonis­chen Erken­nen gle­ich­er Nei­gun­gen her­aus. Für die Grün­dung der Welt­woche 1933 wählte Karl von Schu­mach­er (1894–1957) wohl nicht umson­st Manuel Gasser. Die See­len­ver­wandtschaft zwis­chen Golo Mann (1909–1994) und Heinz Keller (1906–1984) mün­dete in lebenslange Fre­und­schaften. 463 erhal­tene Briefe und Postkarten sind Zeitzeu­gen der Beziehung zu Heinz Keller (Kura­tor am Kun­st­mu­se­um Win­terthur). Ihm “ver­traute [er] alles an, was ihn beschäftigte, auch das pri­vat­este – er fand im klu­gen und diskreten Keller … einen Echoraum. … Gasser bemerk­te bei Keller rasch eine ver­gle­ich­bare Freude am Schauen und Betra­cht­en, es war die Begeg­nung zweier Augen­men­schen, auch und nicht zulet­zt, was männliche Jugend und Schön­heit ange­ht.”

Entset­zlich war für mich die Erken­nt­nis, dass sowohl Karl von Schu­mach­er als auch Manuel Gasser bei der Grün­dung der Welt­woche 1933 so sehr dem begin­nen­den “1000-jähri­gen (Nazi-)Reich” zugeneigt waren und gar eine Gegen­stimme zu der damals noch vorherrschen­den ablehnen­den Schweiz­er Auf­fas­sung sein woll­ten. Das änderte sich erst langsam ab 1938.

Erstaunlich (aber wahrschein­lich doch nicht) tritt her­vor, dass Gasser wohl “mit jedem beliebi­gen Mau­r­er- oder … Strassen­jun­gen … [aber] die h(omo)s(exuellen) Leute nicht ausste­hen [kann]. Bin zwar noch nie einem begeg­net. … Will auch nicht, dass man es von mir halte.” “Gasser denkt hier, muss man annehmen, ans Klis­chee des effem­i­nierten und damit auf­fäl­li­gen Schwulen. So möchte er nicht wahrgenom­men wer­den- jet­zt und auch später nicht, und solche kön­nte er nicht lieben.” Gasser war nie Mit­glied des “Kreis”, aber doch Abon­nent und er kan­nte Karl Meier (Rolf) (1897–1974). So ist es kaum erstaunlich, dass Gasser wed­er Stonewall noch die neu aufkeimende Schwu­len­be­we­gung anfangs der 1970er-Jahre erwäh­nenswert erschienen.

Ver­wun­der­lich bleibt, dass Gasser mit sein­er aus­ge­sproch­enen Nei­gung zu jun­gen und vorge­blich het­ero­sex­uellen Män­nern und seinem in Zürich stadt­bekan­nten Schwul­sein vielle­icht nur im Prozess gegen Bern­hard von Brentano diskri­m­iniert wurde oder gar in die polizeilichen Fänge geri­et. Ein Inter­mez­zo mit Niklaus Meien­berg (Schriftwech­sel und Ein­ladung ins Elsass) ver­an­lasst dessen wütende Mut­ter zu ein­er tele­fonis­chen Kopfwäsche und Meien­berg zu einem “unge­lenken, die homo­phobe Hys­terie der Nachkriegszeit grell beleuch­t­en­den Denun­zi­a­tionsver­such bei den Bun­des­be­hör­den”.

David Streiff ist es in der Biografie gelun­gen, die bei­den Leben­saspek­te – die wie zwei par­al­lele Leben scheinen – zu ver­weben. Gle­ichzeit­ig zeigen sich auch zwei par­al­lele Wel­ten: Ein­er­seits jene eines selb­st­be­wussten und sein­er schwulen Sache sicheren, aber nicht auf­fall­en wol­len­den Intellek­tuellen und sehr begabten Auto­di­dak­ten, der es in der Schweiz zu höch­ster Anerken­nung gebracht hat, und ander­er­seits die fehlende Beziehung zu ein­er Homophilen­be­we­gung, die sich hin­ter Pseu­do­ny­men ver­steck­en musste und zu den um ihre Iden­tität kämpfend­en und strauchel­nden “gewöhn­lichen Homo­sex­uellen” (nach Mar­tin Dan­neck­er). Schein­bar kon­nten oder durften diese bei­den Wel­ten nicht zusam­men­find­en.

Daraus Lehren zu ziehen, müsste ander­norts ver­sucht wer­den.

Max Krieg, 2.5.2018

Manuel Gasser
Biografie
David Streiff
Lim­mat Ver­lag 2016